Ein schwieriger Text – aber manchmal gelingt es einem Dichter einfach, eine Antwort auf die großen Geheimnisse unseres Lebens (Liebe, Glaube, Sinn, …) zu geben.
Versuch nicht alles zu verstehen, frag Dich, ob es eine Zeile gibt, die in Dir etwas zum „Mitschwingen“ bringt.
Selbstbildnis
David Whyte
Es interessiert mich nicht, ob es einen
Gott gibt oder viele Götter.
Ich möchte wissen, ob du
dazugehörst oder dich verlassen fühlst,
ob du Verzweiflung kennst und sie erkennen kannst
in andern.
Ich möchte wissen,
ob du zu leben bereit bist in der Welt
mit ihrem harten Zwang,
dich zu verändern. Ob du zurückschauen kannst
mit festem Blick und sagen:
„Hier stehe ich“.
Ich möchte wissen, ob du es verstehst,
in die feurige Lebenshitze hineinzuschmelzen, hineinzufallen
mitten in deine Sehnsucht.
Ich möchte wissen, ob du bereit bist,
Tag für Tag die Folgen der Liebe zu ertragen und die ungewollte
bittere Leidenschaft deiner unausweichlichen Niederlage.
In dieser feurigen Umarmung, heißt es, reden selbst die Götter von Gott.
David Whyte, Fire in the Earth, Langley WA, 1999
Übersetzung: David Steindl-Rast, Credo, Freiburg im Breisgau 2012, S. 35